Veterinärmedizin ist einer der komplexesten Studiengänge überhaupt. Da können selbst Humanmediziner einpacken und die müssen schon fies viel lernen, wie ich aus eigener Erfahrung weiß. Manchmal frage ich mich nur, warum man dafür überhaupt studieren muss, wenn das doch eigentlich ganz einfach ist. Das zumindest könnte man meinen, wenn man mal so in die üblichen Facebook-Gruppen schaut. Kaum kommt jemand mit einem medizinischen Problem ums Eck, schnippen mindestens fünf Schlaumeier aus irgendeinem dunklen Kellerverlies und wissen ganz genau, was zu tun ist, weil das bei ihnen ja soooo gut funktioniert hat und das bei ihnen eben immer so war.
Das haptische Problem
Es gibt medizinische Probleme, da sieht man mit etwas Übung schon in Bildern auf den ersten Blick, wo es hakt und kann sich entsprechend dazu auslassen, wie man eben diesen Haken wohl beseitigen könnte. In der Mehrheit der Fälle haben wir diesen Luxus jedoch nicht. Oft braucht es mindestens ein gut beleuchtetes Video. Und Manches kann man online einfach nicht ausreichend beurteilen. Basta!
Es gibt wirklich Dinge, die muss man live sehen und das Tier anfassen. Nehmen wir also den aktuellen Anlass für diesen Artikel: eine Maus mit Abszess. Abszesse sind fiese, kleine Dinger, die von außen ganz harmlos aussehen können und in der Tiefe Eitermengen verbergen, dass die Maus nach dem Leeren nur noch die Hälfte wiegt. Umgekehrt können fies aussehende Bilder auch nur noch ein oberflächlicher Befund komplett ohne Abszesstasche sein. Das Problem: Das merkt man nur, wenn man das Tier anfassen kann. Ist eine Tasche da oder ist das Gewebe einfach nur noch fett geschwollen? Und wenn es eine Tasche ist? Wie groß ist die? Ist sie voll oder leer? Offen oder geschlossen?
Diese Fragen beeinflussen wesentlich, wie die Therapieempfehlung aussehen würde. Hat man zudem nur Bilder oder gar nur eine Beschreibung, stellt sich vor einer solchen Empfehlung außerdem die Frage nach dem Allgemeinzustand – theoretisch. Leider gibt es immer noch genug Schlaumeier, die der Allgemeinzustand einen feuchten Kehrricht interessiert. Nur, was bringt einer Maus die perfekte Abszessversorgung samt passender Globuli-Empfehlung, wenn das Tier bereits auskühlt und erstmal kreislaufstützende Maßnahmen vonnöten wären? Oder wenn ein fieberndes Tier von einer parallel erfolgten, von unseren Schlaumeiern gar nicht erfragten, parallelen Behandlung ein neurologisches oder Leberproblem hat? Jaaaaa, das ist dann irgendwie dumm gelaufen, weil den Fall hatten sie ja noch nicht. Oder sie können sich einfach nicht erklären, warum ihre 5-Sterne-Therapie nicht greift, wo sie bei ihnen doch perfekt gewirkt hat.
Das ist dann der Punkt, wo ich mich dann immer auf meine Finger setze, weil mich der Admin sonst wegen bissigem Sarkasmus irgendwann rausschmeißt.
Das statistische Problem
Das statistische Problem ist ein ganz simples: Meistens sprechen unsere Schlaumeier aus der Erfahrung von Einzelfällen oder zumindest von statisch homöopathischen Zahlen. Die sind leider ungefähr so gültig wie Globuli – also im Ernstfall gar nicht. Damit diese Einzelfallerfahrung nämlich einem hilfesuchenden Halter kompetent weiterhilft, setzt das gleich mehrere Dinge voraus:
- Das Einzelfalltier wurde korrekt diagnostiziert.
- Das Hilfe suchende Tier hat tatsächlich exakt denselben Befund.
- Das Einzelfalltier wurde sinnvoll therapiert und ist nicht per dummem Zufall auch so ausgeheilt.
- Die angewandte Therapie greift regelmäßig und zuverlässig beim vorliegenden Befund, ist also exakt so übertragbar.
Na, was meint Ihr, wie oft diese Faktoren wohl auf Facebook und Co. zusammenkommen? Vor wessen geistigen Auge da der sprichwörtliche Sechser im Lotto auftaucht, der liegt da wahrscheinlich gar nicht so falsch. Bei dem oft mickrigen Input und dem häufig dazu kommenden haptischen Problem ist eine Empfehlung aus einer Einzelfallerfahrung heraus daher eher Russisch Roulette, denn eine sinnvolle Erweiterung des Veterinärberufes.
Das medizinische Problem
Wer von Medizin ein wenig Ahnung hat, dem dämmerte es beim Lesen wahrscheinlich schon: Problem eins und zwei machen es mitunter unmöglich, eine sichere und sinnvolle Therapieempfehlung zu geben. Dafür hat unser Mausbesitzer in der Regel schnell ein ganzes Potpourri verschiedener Therapievorschläge zur Auswahl. Beim Abszess waren in unserem Beispiel unter anderem diese dabei:
- Tasche ausdrücken und offenhalten
- Mit Bepanthen, Betaisadona oder einer anderen Salbe beschmieren
- Spülungen mit Kochsalz oder Octenisept
- Arnica Globuli
Warum man nicht einfach an Abszessen rumdrückt
Drück den doch mal aus. Geile Idee – theoretisch! Praktisch ist es dann weniger geil, wenn das Ganze vielleicht nach innen aufbricht. Im schlimmsten Fall überschwemmen die Erreger dann den gesamten Organismus und würfeln, wer bei der Sepsis mitmachen darf. Oder sie setzen sich in den unterschiedlichsten Ecken fest und verursachen dort innere Abszesse. Auch nicht wirklich gesund.
Drückt man an akut entzündeten Arealen oder unreifen Abszessen rum, tut das außerdem höllisch weh und macht es eher schlimmer, als besser.
Leeren ist nur dann eine gute Idee, wenn der Abszess reif ist und derjenige, der das tut, auch weiß, was er da macht. Oft haben reife Abszesse einen kleinen Schorf, den man abheben und durch dessen Öffnung man den Abszess dann leeren und spülen kann. Oft … aber eben nicht immer. Und auch nicht immer ist die Öffnung groß genug oder der Eiter flüssig genug, um ihn zu entfernen. Dann muss der Abszess mit einem Skalpell gespalten werden. Wer möchte das gern mal an seinem Tier auf dem Wohnzimmertisch ausprobieren? Naaaa? Ich hoffe, keiner.
Und damit die Aktion auch Sinn macht, muss man den Abszess vollständig leeren. Nur, wann ist er leer? Zeigt mir doch mal den Otto-Normal-Maushalter, der das so genau weiß. Ob er dann offengehalten werden muss, hängt wiederum vom Befund ab. Relativ kleine Taschen heilen in der Regel von allein von innen aus. Bei großen ist das Offenhalten durchaus sinnvoll.
Warum Salben Scheiße sind
Was? Kraftausdrücke in einem Blog, den vielleicht Kinder mitlesen? Ja! Denn es ist einfach wahr! Das ganze Geschmiere auf der Maus ist Scheiße! Das gilt nicht nur für Abszesse, sondern auch für ca. 95% aller anderen Fälle. Es stresst sie. Es reizt sie zum Lecken, Kratzen und im schlimmsten Fall zum Knabbern an den betroffenen Stellen. Warum? Ganz einfach: Würdet Ihr mit so einem flauschigen Pelzchen so einen Schmodder aufgeschmiert bekommen wollen? Also ich nicht.
Die logische Folge: In der Regel wird das beschmierte Problem eher schlimmer als besser. Ist eine oberflächliche Hautbehandlung wichtig und notwenig, sind wässrige Lösungen zum Spülen oft die bessere Idee. Zwar babben sie nicht so schön am Tier. Das lässt sich nach dem Spülen aber notfalls mit einem Puder lösen. Ist den Mäusen nicht halb so widerlich und öfter zielführend.
Warum Spülungen nicht immer die Lösung sind
Man soll Abszesse in der Regel spülen. Soweit so richtig. Da stellen sich dann aber gleich schon wieder mehrere Fragen: Mit was? Wie oft? Wie lange? Und muss man überhaupt spülen? Deshalb steht nämlich das “in der Regel” im ersten Satz dieses Absatzes. Muss man nämlich nicht immer. Und auch bei den Spülmedien hab ich schon abenteuerliche Sachen gelesen. Ganz nette Basics find ich Kochsalzlösung für diesen Zweck oder Lotagenlösung, wenn der denaturierende Effekt gewünscht ist. Es muss also nicht immer eine spezielle Desinfektionslösung sein.
Warum man Abszesse nicht mit Globuli beschmeißt
Bekanntermaßen stehe ich mit den Zuckerdrops auf Kriegsfuß. Schmeißt sie von mir aus zur Nervenberuhigung oder sonstwas in die Mäuse, aber bitte nicht bei ernstzunehmenden Erkrankungen – zu denen Abszesse eindeutig gehören können. Ist hier nämlich eine medikamentöse Behandlung notwendig, braucht es auch Wirkstoff und kein wässriges Gedächtnis auf süßer Basis. Lutscht die Arnica D-schießmichtot also in solchen Fällen bitte selber und lasst die Kleinen ordentlich behandeln.
Und was lernen wir jetzt draus?
Nachdenken! Bitte einfach nachdenken! Bevor Ihr eine konkrete Behandlungsempfehlung gebt, überlegt, ob der Input dafür überhaupt ausreicht. Und wie steht es mit Eurer Erfahrung in dem Bereich? Hattet Ihr das nur eins-, zweimal? Oder geht es Euch vielleicht ähnlich wie mir und Ihr seht manche Dinge quasi am Fließband? Dann habt Ihr nämlich den statistisch relevanten Einblick in den Sinn und Unsinn bestimmter Therapieempfehlungen und dann sind sie auch hilfreich. Fehlt es an Infos oder Erfahrung, dann lasst im Zweifel die Finger von konkreten Anleitungen. Passen nämlich angeleitete Behandlung und vorliegender Befund so gar nicht zusammen, kann das im schlimmsten Fall Tote geben. Im besten Fall taucht vorher so ein penetranter Mensch wie ich auf und mosert rum, dass es für diese und jene Anleitung ja gar nicht genug Info gibt oder die aus diesen und jenen Gründen einfach mal ein Schuss in den Ofen ist.