“Mäuse dürfen auf gar keinen Fall Stress haben.” So oder so ähnlich geistert eine Maxime durchs Internet. Aber was ist Stress eigentlich? Was passiert dabei im Körper? Und ist er wirklich so gefährlich?
Wann Mäuse überhaupt gestresst sind, können wir von außen nur vermuten. Es ist ein Befinden, das Mäuse dem Menschen nur schlecht mitteilen können. Stressreaktionen können fließend in andere Verhaltensweisen sowie Krankheitssymptome übergehen, wenn sie intensiv genug sind oder länger anhalten. Leichte Stressreaktionen lassen sich nur im Labor messen.
Stress als körperliche Reaktion
Stress ist eine sehr ursprüngliche Reaktion, die in denselben Hirnarealen ihren Ausgang nimmt wie andere grundlegende Verhaltensweisen. Dazu gehören der Schlaf-wach-Rhythmus, die Ernährung und das Fortpflanzungsverhalten sowie Emotionen. Er führt im Körper zu einer ganzen Reihe von Reaktionen, deren Grundprinzipien bei Maus und Mensch gleich sind. Unterschieden wird dabei zwischen akutem und chronischem Stress. Ausgelöst wird er von einer ganzen Reihe von Reizen, den sogenannten Stressoren.
Stressoren und Reizreaktion
Vor allem in akuten Gefahrensituationen wird von typischen Flucht- und Beutetieren wie Mäusen eine schnelle Reaktion erwartet. Daher findet die Reizverarbeitung in diesem Fall nicht im Großhirn statt. Dieser Verarbeitungsweg könnte kostbare Zeit kosten. Stattdessen erfolgt die Beurteilung der Gefährlichkeit einer Situation reflexartig über schematische Muster, auf die das Stammhirn reagiert und eine entsprechende Reaktion auslöst. Zu den auslösenden Mustern gehören für Mäuse beispielsweise:
- plötzliche, unbekannte Geräusche
- plötzlicher Wechsel der Helligkeit
- Warnlaute und Todesschreie
- Schatten von oben
- etc.
Objektive Stressoren
- extreme Temperaturen
- Einsamkeit
- zu hohe Besatzdichte im Gehege
- Hunger und/oder Durst
- Lärm
- Gewecktwerden
- Nichterfüllung grundsätzlicher Bedürfnisse
- etc.
Subjektive Stressoren
- Wut
- Angst
- Dominanzstreben
- niedriger Rang
- etc.
Ablauf der Stressreaktion
Seinen Anfang nimmt Stress in einer als gefährlich wahrgenommenen Situation. Im Fall von Mäusen kann zum Beispiel das Schema für einen Fressfeind ausgelöst werden, wenn Sie von oben auf das Tier fassen oder es scheuchen. Dann wird in Sekundenbruchteilen eine ganze Kette physischer Reaktionen ausgelöst, die die Maus fit für Kampf oder Flucht machen sollen.
In dieser enorm kurzen Zeit laufen im Körper verschiedene Mechanismen parallel zueinander ab.
Durch den Reiz wird über das limbische System und den Hypothalamus die Aktivität des Sympathikus genannten Teils des vegetativen Nervensystems erhöht. Dieser Teil des Nervensystems ist für eine Steigerung der Handlungsbereitschaft verantwortlich und aktiviert die entsprechenden Systeme (Herz, Durchblutung, Blutdruck, Muskeltonus, Stoffwechsel, Glycolyse).
Die Alarmbereitschaft im Körper führt zu einem erhöhten Nährstoffbedarf, der durch die Freisetzung von Fettsäuren aus dem Fettgewebe und von Glukose aus dem Glykogenvorrat der Muskeln und der Leber gedeckt wird. Auch der Sauerstoffbedarf steigt und wird durch eine schnellere Atmung gestillt.
Adrenalin und Noradrenalin, die in der Nebenniere ausgeschüttet werden, verstärken die Wirkung des Sympathikus und sorgen zudem für eine Erhöhung von Schlagfrequenz und –volumen des Herzens sowie für einen höheren Blutdruck. Durch den höheren Druck, die Geschwindigkeit des Blutes und die Weitung der den Muskel versorgenden Gefäße gelangen Sauerstoff und Nährstoffe schnell und in ausreichendem Umfang zu den Muskeln. Dort wird Energie für die Bewegung freigesetzt.
Gleichzeitig hemmt der Sympathikus die Aktivität nicht benötigter Systeme wie Verdauung und Lymphorgane.
Der Hypothalamus wirkt jedoch nicht nur auf den Sympathikus, sondern mittels verschiedener Hormone auch auf die Hypophyse und startet so Hormonketten, die die Stressreaktion verstärken und erweitern. So führt die Reaktion auf den Stressreiz unter anderem zu einer Erhöhung des Grundumsatzes und damit der Körpertemperatur. Dadurch laufen die nötigen chemischen Reaktionen im Körper schneller ab.
Durch eine hormonelle Rückkopplung werden Hypothalamus und Hypophyse wieder gehemmt, sodass die Stressreaktion bei Abwesenheit eines Stressors wieder abgeschaltet werden kann.
Nährstoffbereitstellung hochgefahren
Freisetzung von Glucose und Fettsäuren + Sauerstoffaufnahme erhöht = Energiebereitstellung optimiert
Transportsystem leistungsoptimiert
Blutdruck erhöht + Gefäße geweitet + höhere Fließgeschwindigkeit des Blutes = bessere Nährstoffversorgung
Stoffwechselprozesse beschleunigt
Erhöhung Grundumsatz + Erhöhung Körpertempertatur = Beschleunigung der Energiebereitstellungs- und -gewinnungsprozesse
Energiefresser zeitweise gedrosselt
Hemmung von für Stressreaktion nicht notwendigen Organsystemen = Ressourcen konzentrieren sich ganz auf wichtige Organe
Vom akuten zum chronischen Stress: Die Phasen der Stressreaktion
Stress ist eine wichtige Reaktion des Körpers. Wohldosiert und als akuter Stress fördert er die Resilienz des Körpers. Nicht nur zu viel, sondern auch zu wenig Stress kann Ihren Mäusen nämlich schaden. Leben die Nager quasi stressfrei, ist eine stressige Situation wie ein Umzug oder der Gang zum Tierarzt deutlich belastender als für “trainierte” Tiere.
Ungesund wird Stress erst dann, wenn er chronisch wird. Wie für so vieles gilt also auch hier Paracelsus: “Die Dosis macht das Gift.”
Phase 1: Alarmphase
Jetzt wirkt der Stressreiz ein. Der Körper der Maus reagiert geschockt und die oben beschrieben Alarmierung des Körpers findet durch Aktivierung des Sympathikus und die Hormonkette statt. Der kleine Körper bereitet sich auf Höchstleistungen, nämlich auf Flucht oder Kampf, vor.
In dieser Phase reagiert das Tier also mit:
- Anstieg von Herzschlag, Puls und Blutdruck
- Erhöhung der Atemfrequenz und Weitung der Bronchien
- Anspannung und vermehrte Durchblutung der Skelettmuskeln
- Anstieg des Blutzuckerspiegels
- Verlangsamung der Verdauungs- und Ausscheidungsorgane
- Hemmung von Proteinaufbau und Sexualfunktion
Verbleibt der Körper länger im Alarmzustand, treten Veränderungen im Stoffwechsel von Kohlenhydraten und Fetten auf. Das Blut übersäuert und der Blutzuckerspiegel ist hoch.
Phase 2: Adaptionsphase
Ist der erste Schreckmoment vorbei, setzt sich der Körper mit dem Stressor auseinander und eine Gegenreaktion setzt über den Parasympathikus ein. Einige Elemente der Alarmreaktion werden dadurch wieder abgeschwächt.
- Anregung von Verdauungs- und Ausscheidungsorganen
- Steigerung des Speichelflusses
- Zusammenziehen der Bronchien
Die Werte der Hormone Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol bleiben aber weiter erhöht. Das kann langfristig die Funktion der Schilddrüse und die Fortpflanzungsfähigkeit beeinträchtigen und Entzündungen im Körper fördern.
Phase 3: Erschöpfungsphase
Diese Phase tritt dann ein, wenn die Auslöser dauerhaft auf die Maus einwirken. Dazu gehören beispielsweise ständiges Anfassen, Lärm, stressauslösende Gerüche, aber auch permanenter Juckreiz – was sich vor allem bei Kratzmäusen gut am körperlichen Verfall der Patienten erkennen lässt.
Je länger diese Phase anhält, umso gravierender werden die Auswirkungen auf den Körper. Es kommt zu:
- Problemen bei der Energiebereitstellung
- Verlust der Anpassungsfähigkeit an die Stressreaktion
- Beeinträchtigung von Immunabwehr, Wachstumsprozessen und Fortpflanzung
- Appetitlosigkeit
Wird die Stressquelle nicht beseitigt, mündet diese Phase im Tod des betroffenen Tieres.
Akuter Stress vs. chronischer Stress
Akuter Stress wird durch einen plötzlich auftretenden Stressor ausgelöst, ist zeitlich deutlich begrenzt und tritt nicht regelmäßig in kürzeren Zeitabständen auf.
Bei chronischem Stress dagegen wirkt der Stressor in kurzen Abständen immer wieder auf die Mäuse ein oder ist sogar dauerhaft vorhanden. Der Übergang von akutem zu chronischem Stress ist jedoch fließend.
Steht eine Maus unter starkem und/oder dauerhaftem Stress, zeigen sich eine Reihe von Reaktionen. Dies sind z.B.:
- Appetitlosigkeit
- schlechtes Allgemeinbefinden
- Verhaltensänderungen (z.B. plötzliche Aggressivität)
- auch für den Laien erkennbar schnellere Atmung
- Fluchttendenzen → das Tier versucht sich der stressauslösenden Situation zu entziehen
- Schreckhaftigkeit
Die Schäden, die chronischer Stress im Körper anrichten kann, sind äußerst vielfältig. Stehen Mäuse quasi ständig unter Strom, können dies die Folgen sein:
- Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch die ständige Erregung des Sympathikus
- Nieren-, Herz-, Gefäß- und andere Organerkrankungen durch den erhöhten Zuckerspiegel
- Belastung der Leber durch Adrenalin und Noradrenalin und deren Abbau
- steigendes Schlaganfallrisiko durch Arteriosklerose und dauerhaft verengte Gefäße
- Verspannungen, Haltungs- und Gelenkschäden durch erhöhte Muskelspannung
- Magen-Darm-Erkrankungen durch die verminderte Darmtätigkeit
- Erschöpfung und Leistungsverlust durch die chronische Belastung, bei der das Tier in ständiger Widerstandsbereitschaft ist
- geschwächtes Immunsystem -> erhöhte Neigung zu Parasitosen, Pilzerkrankungen und Infekten
Stellen Sie bei Ihren Nagern Anzeichen für chronischen Stress fest, sollten Sie schnellstmöglich die Ursache beheben und den Tiere Ruhe und Ungestörtheit verschaffen. Chronischer Stress kann das Leben der kleinen Nager sonst merklich verkürzen. Empfindliche Arten wie Grasmäuse, Lemminge oder Rötelmäuse können schon binnen weniger Tage oder Wochen daran versterben!
Typische Auslöser für chronischen Stress
- Einsamkeit
- Juckreiz
- dauerhafte Spannungen innerhalb der Gruppe
- permanent oder regelmäßig laute Geräusche (Musik, Vögel im selben Raum, …)
- niedriger Rang
- regelmäßig erzwungener Kontakt zum Halter (-> rumtragen)
- Lärmstress durch gesprächige Vögel im selben Raum
Akuter Stress
- zeitlich eng begrenzt
- hinterlässt keine Schäden
- lebensnotwendig
Chronischer Stress
- zeitlich unbegrenzt oder sich (oft) wiederholend
- schadet dem Organismus
- macht krank
Stress vermeiden um jeden Preis?
Gerade weil Stress viele negative Folgen haben kann, tendiert so mancher Halter dazu, diesen möglichst weit zu vermeiden. Einige Halter raten auch dringend von jeglichem Stress ab mit dem Verweis auf die Gesundheit der Mäuse. Wie aber bereits erwähnt: Ein gewisses Maß an Stress ist wichtig und gesund. Wie stressresistent eine Maus ist, liegt zum einen im Individuum selbst, zum anderen auch in seiner Artzugehörigkeit begründet. Vielzitzenmäuse etwa sind sehr stressresistent. Die meisten Wühlmäuse dagegen sind eher sensibel.
Genau wie für den Menschen gibt es auch für Mäuse positiven Stress. Das kann zum Beispiel das aufgeregte Erkunden eines Auslaufs sein oder ein Spaziergang auf Ihrer Hand. Wichtig ist, dass Sie auf die Signale der Tiere achten. Ist das noch aufgeregte Neugier oder schon Angst?
Auf jeden Fall sollten Sie Ihre Mäuse sofort aus Situationen nehmen, in denen sie echte Panik haben. Das übersteigt einen gesunden Stresslevel deutlich.
Wirklich krank macht Stress erst dann, wenn er einen gewissen Level übersteigt oder chronisch wird.
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