Neue Wohnung, neue Nachbarn, neues Glück. Also gleich mal
fröhlich alle begrüßen. Ich bin ja schließlich ein netter und überaus höflicher
Mensch – solange man mich und mein Mundwerk nicht reizt. Bei meiner Nachbarin
rechts nebenan fange ich an. Klingeln. Warten.
Im Flur vernehme ich schlurfende Schritte. Oh Gott, ich
werde doch keine Hundertjährige aus ihrem wohlverdienten Mittagsschlaf gerissen
haben? Die Tür öffnet sich im Zeitlupentempo. „Hallo? Sie wünschen?“ „Äh …
ich … ähhh … bin die neue Nachbarin und wollte mich eigentlich nur kurz
vorstellen und Ihnen das hier bringen auf gute Nachbarschaft.“ Damit halte ich
ihr Salz und mein mühsam selbstgebackenes und sehr leckeres – ja, ich hab’s
vorher extra probiert – Brot unter die Nase.
Oh, das sei ja sehr nett, aber sie dürfe nicht so viel Salz zu sich nehmen und Brot müsse leider immer glutenfrei sein. Das tut mir aber sehr leid, dass es mit der Gesundheit meiner Nachbarin offensichtlich nicht so ganz zum Besten steht. Nicht ganz zum Besten? Ein Drama sei das, werde ich belehrt. Nichts könne man heute noch ruhigen Gewissens essen und sie könne dieser Tage nicht mal vor die Tür gehen, obwohl ja so gutes Wetter sei. Aber die Pollen. Ich wisse schon. Mit Leichenbittermiene zerrt sie auch gleich demonstrativ ihr Taschentuch hervor.
Da mache ich den Fehler, den ich mir nicht mehr verzeihen werde, solange ich hier wohne. Das täte mir ja so leid, meine ich eher nebenbei und der Höflichkeit halber. An Heuschnupfen ist schließlich noch keiner gestorben.
Ja, das sei ganz tragisch und niemand verstehe sie, zerfließt vor mir eine Pfütze, bei der ich instinktiv den Reflex bekomme, einen Lappen zum Aufwischen zu holen. Oder ist das ein Fluchtreflex? Egal, denn die Chance bekomme ich nicht.
Sie habe schon ihren guten Job dafür aufgeben müssen und wegen der ganzen Medikamente habe sie schon dreißig Kilo zugenommen. Ich messe sie mit knappem Blick und nicke. Dreißig Kilo? Na gut, dann war sie vorher schon nicht ganz schlank. Doch meine Dramaqueen mißdeutet dieses Nicken als ein mitleidendes. Sie sei ja so froh, daß ich sie verstehen könne. Es könne ja kaum jemand nachvollziehen, wie schwer sie es habe.
Schwer haben es höchstens ihre Gesundheitslatschen. Die müssen schließlich ihre drei Zentner tragen, denke ich mir. Aber weil ich ja höflich bin, bleibt es auch beim Denken.
Wieder setze ich zu Flucht an. Ich müsse noch in die Stadt. Ich hätte da einen Termin beim Arbeitsamt wegen meiner weiteren Berufslaufbahn. Dass der Termin erst morgen ist, muss die Gute ja nicht wissen. Oh, ich sei ja so zu bedauern, setzt sie in sirenenhaftem Ton erneut an. Ich bin so irritiert, dass ich glatt vergesse, mich vom Treppenabsatz zu Richtung Haustür zu verkrümeln, als sie Luft holt. Chance vertan. In zunehmend hysterischem Tonfall erfahre ich, was das doch für unfähige Sesselfurzer auf dem Amt seien und ich ja außerdem heutzutage bei diesem maroden Wirtschaftssystem eh auf Har(t)z kleben bliebe. Es gebe ja keine Jobs mehr, die man noch machen könne, ohne die Gesundheit zu riskieren.
Erstaunt erfahre ich von der immensen Verbreitung von Kontaktallergien, Arbeitsunfällen und Burnout Syndrom. Wenn sie so weiter macht, sterbe ich tatsächlich verfrüht – allerdings an Langeweile. Dass es ihr aber gar nicht um die allgemeine missliche Lage der Wirtschaft, sondern vielmehr um ihre Wehwehchen geht, merke ich erst, als sie nahtlos beginnt, ihre gesamte berufliche Krankengeschichte wie einen Teppich vor mir auszubreiten. Und dieser Teppich ist ein verdammt langer Flurläufer! Jedes Detail wird in den höchsten Tönen bejammert. Ich beginne, mir im Wechsel einen Knebel, eine Axt oder ein Loch im Boden zu wünschen.
Die Rettung naht in Gestalt meines Vermieters. Ich ergreife die Gelegenheit beim Schopfe und verkrümel mich ganz schnell die Treppe runter. Nicht ganz höflich – aber definitiv nötig, bevor sie mir mein Ohr ganz abkaut.
Eigentlich wäre ich schon vor einer halben Stunde im Café mit einer Freundin verabredet. Aber diese Selbstmitleidspfütze hat bei mir wohl wirklich jegliches Zeitgefühl weggespült. Als ich ziemlich gehetzt um die Ecke biege, will Stefanie gerade wieder gehen. Sie habe schon gedacht, ich hätte sie mal wieder vergessen. Nein, hab ich nicht. Wirklich nicht. Nichts hätte ich lieber gemacht, als schon längst mit ihr im Café zu sitzen. Wenn sie wüsste, wie meine letzte Stunde aussah, würde sie mich nicht so zweifelnd anschauen.
Ich hole gerade Luft, um Steffilein mein Leid zu klagen, als ich mich vor meinem geistigen Auge selbst als Pfützchen Selbstmitleid unter dem Cafétisch wabern sehe. „Hab mich mit meiner neuen Nachbarin verquatscht“, schiebe ich zwischen den Zähnen hervor und unterdrücke den Reflex, ihr das ganze Drama auszubreiten.
Das kleine Männchen, das in meinem Kopf hinten links wohnt, schaut argwöhnisch um die Ecke. Diese Dramatitis wird doch nicht etwa ansteckend sein? Ich will es doch nicht hoffen!? Und wenn doch? Dann hab ich immer noch die beste Medizin, die es gibt: Freunde, die mir sehr unverblümt den Spiegel vorhalten. Heilungsquote hundert Prozent. Na Gott sei Dank! Sonst gibt das noch genauso häßliche Flecken auf den schicken Dielen vor meiner Tür wie vor der Tür nebenan.