Es gibt ja Menschen, die dürfte es theoretisch gar nicht geben! Praktisch sieht das dann aber doch ganz anders aus. Und deshalb ist bei uns jetzt einer dieser ganz besonderen und Gott sei Dank sehr seltenen Spezies eingezogen. Theoretisch hätte er ja im ersten Stock links von der meiner Nachbarin einziehen sollen. Ja, genau die, der man lieber nicht seine ehrliche Meinung sagt, wenn man nicht mit Giftblicken beschossen werden und an den Tiraden ertauben will. Fand ich an sich ja schon mutig, dass er sich das theoretisch vorstellen kann. Das praktisch in Angriff zu nehmen, wäre was anderes gewesen.
Aber erstens kommt es ja bekanntlich anders und zweitens als man denkt. Meine beste Freundin hat ihn auf dem Weg zu mir im Flur getroffen. Die Wohnung, die er wollte, ist leider schon weg. Will gar nicht wissen, wer da einzieht.
Nun hat er die oben drüber bekommen. Die Wohnung im zweiten Stock steht ja schon ewig leer. Sowas hat meistens seine Gründe und deshalb ist es hier nicht anders. Es müsste theoretisch mal grundlegend renoviert werden. Dafür ist sie sehr bezahlbar, was für den angehenden Herrn Studenten theoretisch wie praktisch offensichtlich ein schlagendes Argument war.
Nein, ich bin nicht neugierig. Überhaupt nicht! Ich bin ganz zufällig an seiner Tür vorbeigekommen und sah ihn da mit Zettel und Stift im Flur auf dem nackten Stein sitzen. Und weil ich ja nett bin, hab ich mal an die halboffene Tür geklopft, mich als den Grufti aus dem fünften Stock vorgestellt und ihn herzlich willkommen geheißen. Aber wo ich schon mal da war, hat mich dann doch interessiert, was er da macht.
Er ist ein sehr netter junger Mann, übt sich mit der Neugier meiner Person in Geduld und erklärt mir, dass er seit einer Stunde hier sitze und die Planung für die Renovierung aufstelle, denn vor der Praxis komme die Theorie. Ob ich das nicht wisse.
Ich frage mich – immer um das Wohl meiner Mitmenschen besorgt – ob das nicht zu kalt auf dem Steinfußboden wird. So von wegen Blasenentzündung und so. Nein, nein, das gehe schon, denn erstens ist es theoretisch sowieso zu warm für so was und zweitens kriegen Männer sowas ja theoretisch so gut wie nie. Na ja, praktisch hat Mama zu Hause dann wohl eine Woche lang Kamillentee gekocht und ihrem Sohn auf´s Klo gereicht. Soviel zum Zeitplan.
Aber ich muss ehrlich gestehen, irgendwie hab ich ihn vermisst! Zum einen ist er einer der ganz wenigen Menschen, der mich erträgt, ohne zu meckern. Und außerdem finde ich, wie schon erwähnt, diese Spezies Mensch sehr interessant. Das hat mich dann zu dem Versprechen verleitet, ihm beim Renovieren zu helfen, da er hier fernab der Heimat sonst niemanden kennt und ich wohl eine recht nette Person sei. Das Kompliment ist lieb von ihm, aber so lange kennt er mich ja auch noch nicht.
Theoretisch seien Frauen zwar handwerklich nicht so geschickt, aber er schien mir trotzdem ganz froh, das nicht allein machen zu müssen. Ich nehm mir also den schwer erarbeiteten Plan, um zu ergründen, was mir da so alles blüht. Tapezieren. Tapete war noch nie mein Freund, aber irgendwie kriegen wir das schon hin. Küchenfront fliesen. Kann ich. Malern. Kann ich. Alte Farbe von Tür und Türrahmen sowie von den Fenstern runter und neue wieder drauf. Kann ich auch. PVC verlegen. Wenn kein Krümelkacker nachmisst, kann ich das auch.
In den Plan vertieft schrecke ich hoch, als mein Herr Nachbar fragt, ob ich jetzt Zeit für den Baumarkt hätte. Ich frag mich – und ihn – besorgt, was er denn jetzt im Baumarkt will. Eimer, Pinsel, Wasserhahn und Tapetenlöser hat uns unser herzensguter Vermieter dagelassen. Der weiß im Gegensatz zu meinem netten Nachbarn, was Tapetenkratzen für eine Scheißarbeit ist und ist wahrscheinlich froh, dass er einen Dummen gefunden hat, der denkt, dass das theoretisch ganz einfach sei. Letzterer rechnet nämlich theoretisch laut Zeitplan zu meinem Entsetzen damit, dass wir gegen 17.00 Uhr fertig sind. Ich schaue auf die Uhr, halb zehn. Er meinte bestimmt übermorgen 17.00 Uhr. Meinte er nicht. Aber fertig sind wir trotzdem erst drei Tage später. Mein bedauernswerter Nachbar hat Muskelkater in den Armen, den er theoretisch gar nicht hätte haben dürfen und ich kann nasse Tapete und Spachtel nicht mehr sehen.
Im Zeitplan inzwischen neun Tage hinterher – Ihr erinnert Euch sicher an die sieben Tage Blasenentzündung, die er theoretisch nicht hätte haben dürfen – machen wir uns auf den Weg in den Baumarkt. Theoretisch wollte mein neuer Nachbar mit der Bahn fahren, denn theoretisch müsste alles in die beiden großen Rucksäcke passen. Den Rest klemmen wir unter den Arm. Nachdem ich ihm praktisch mit Streik drohe, überlegt er es sich aber dann doch noch mal und steigt in meine alte Rostlaube.
Er hätte vielleicht erst in den Baumarkt gehen und dann den Finanzplan aufstellen sollen. Ist ja schön und gut, wenn Papa meint, dass dieses und jenes theoretisch maximal so und so viel kostet. Schade nur, dass das praktisch schon ein paar Jährchen her ist, dass Papa renoviert hat. Man hätte ja noch die Inflation draufrechnen können. Hat man(n) aber nicht mal theoretisch dran gedacht. Fazit unseres Baumarktbesuches: Mein lieber, neuer Nachbar war an der Kasse einem Ohnmachtsanfall nahe und steht bei mir jetzt mit 200 Euro in der Kreide.
Dass er dann wirklich fast zusammengebrochen ist, lag allerdings nicht am Preis der erworbenen Kostbarkeiten, sondern eher an ihrem Gewicht. Praktisch weiß er jetzt also auch, warum wir mit dem Auto gefahren sind. Mal ganz abgesehen davon, dass ich es mir sehr interessant vorstelle, wie er 20 Tapetenrollen – die theoretisch reichen müssten – unter den Arm hätte klemmen wollen.
Zu Hause angekommen, stellt er fest, dass es ja theoretisch günstiger wäre, erst die Farbe von den Türrahmen zu machen und die neu zu streichen und dann zu tapezieren. Langsam frage ich mich, ob er dieses Jahr noch einziehen will. Zu guter Letzt wird dann aber doch erst tapeziert. Ich gehe nach oben, was essen, er rührt – exakt nach Vorschrift – den Tapetenleim an. Als ich eine halbe Stunde später wieder in der Tür stehe, verkündet er freudestrahlend, dass wir jetzt loslegen könnten. „Womit denn?“, frage ich ganz entgeistert. Tapezieren? Das kann nicht sein Ernst sein! Doch, doch, er habe sich da vorher belesen und extra diesen Tapetenleim gekauft. Da könnten wir gleich loslegen. Ich seufze in mich rein und baue den Kleistertisch auf.
Theoretisch müsste die Tapete an der Wand halten. Warum er sich dann praktisch grad damit einwickelt, ist mir ein Rätsel. Aber vielleicht ist ihm ja kalt. Kann theoretisch auch in einem warmen September vorkommen. Nach der dritten Rolle ergibt sich mein netter Nachbar dann der Praxis und gibt auf. Ich habe den Rest des Nachmittags frei und er dackelt noch mal mit dem Bus quer durch die Stadt zum Baumarkt und holt noch drei Rollen Tapete. Ich freu mich auf morgen.
Zwei Tage und 30 Tapetenrollen später (ich wusste doch, 20 reichen nicht!) ist das Papier endlich an der Wand und wir völlig fertig. Theoretisch müssten wir inzwischen schon gestrichen und gefliest haben. Aber daran glaubt wohl noch nicht einmal mein lieber Nachbar mehr. Der sieht mir momentan sowieso ein wenig panisch aus. Ja, ja, ich weiß, nächste Woche geht das Semester los – für Erstsemester zumindest. Aber deshalb gleich die Krise kriegen? Ich weiß auch, theoretisch hätten übermorgen die Möbel stehen müssen. Aber das hat er doch nicht wirklich selbst geglaubt, oder? Theoretisch ist er den Tränen nahe, praktisch zerbröselt in ihm wohl grade eine ganze Welt. Und die Farbe bleibt wohl doch noch eine Weile an den Türen.
Pünktlich zum Semesteranfang ist dann auch die Farbe auf der Raufaser trocken und die Fliesen kleben an der Wand. Wobei mich bei letzteren rückblickend wundert, dass die oberste Reihe überhaupt hält. Weil theoretisch müssten die sofort wieder runterkommen, zumindest, wenn es nach meinem Nachbarn geht. Da ich sie aber angepappt habe, halten sie. PVC Verlegen bleibt mir erspart, da die theoretisch dafür veranschlagten 60 Euro schon im Baumarkt geblieben sind und wir nicht noch mal schauen brauchen. Leider musste ich meinen netten Nachbarn nämlich damit ernüchtern, dass praktisch zur Befestigung des widerspenstigen Belags noch Leim vonnöten wäre, der auch nicht grade billig ist. Die Möbel sind dann für nächstes Wochenende umgeplant worden.
Wenn ich mir die letzten zwei Wochen so betrachte, könnte das theoretisch sehr lustig werden. Aber keine Macht der Welt bringt mich dazu, da praktisch mitzutragen! Im Gehen fällt mein Blick auf eine Mappe. Sein Stundenplan. Erste Stunde: Wissenschaftstheorie! Dazu fällt mir jetzt nix mehr ein und ich gehe ganz praktisch nach oben – was zumindest theoretisch symbolisch beweisen könnte, dass die Praxis über der Theorie steht. Rein räumlich gesehen …
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