Florian – oder Flo, wie seine Mama immer sagte – war ein kleiner, schwarzweißer Mäuserich. Oft hatte er das „Flo“ nicht gehört. Noch keine vier Wochen war er alt gewesen, als Menschen kamen und ihn und seine Geschwister grob am Schwanz von ihr wegzerrten. Aua! Das tat weh. Flo rieb sich den Po, während seine Geschwister und viele andere Mäuse panisch durch die dunkle Holzkiste rannten, in die man sie gesteckt hatte. Schließlich drückten sich alle ängstlich in eine Ecke – und Flo mittendrin.
Jemand trug
sie weg. Es wurde laut und rumpelte eine ganze Weile. Schließlich schlief der
kleine Mäuserich erschöpft ein. Wach wurde er, als jemand den ganzen Trupp aus
der Kiste kippte. Flo landete unsanft auf glattem Kunststoff. Alle saßen dicht
gedrängt und sahen an den hohen Wänden des Eimers hinauf. Jemand legte ein
Gitter darüber und sagte: „Die sind für morgen.“
Flo hatte Hunger und Durst. Seit er von zu Hause weg war, hatte er nichts mehr
gegessen oder getrunken. Aber in dem Eimer gab es nichts außer Artgenossen,
Angst und schlechten Gerüchen.
Am nächsten Tag trugen Menschen den Eimer weg. Es roch komisch und jemand
machte „huhuuuu“. Dann waren die ersten Kumpels auch schon weg.
„Den nicht.
Den nehm ich meiner Tochter mit“, hörte Flo jemanden sagen. Kurz darauf fand er
sich in einer Schachtel und wenig später in ungeschickten Kinderhänden wieder.
Mit glänzenden Augen zeigte ihm Klara – so hieß sein Mensch – sein neues
Zuhause: eine Aufbewahrungsbox.
Klara liebte Flo und brachte ihm viele leckere Sachen. Das Essen war gut. Doch
es konnte nicht über die Einsamkeit und Langeweile hinwegtäuschen, die immer
stärker an ihm nagten. Eines Tages weinte Klara fürchterlich, als er wach
wurde. Kurz darauf kam Klaras Papa und steckte Flo sehr unsanft in eine
Schachtel. „Der stinkt zum Himmel! Der kommt weg.“
Nach viel
Lärm und Geschaukel gab es einen Rumms und dann war Ruhe. Und es wurde schnell
immer kälter. Flo beschloss nachzusehen, was da war, und nagte sich aus seinem
Behältnis. Er fand sich wieder zwischen zwei Kaffeebechern, einigem Papier,
einer Bananenschale und einem Kaugummi, an dem er fast festgeklebt wäre. Bäh!
Emsig suchte er nach Essbarem und etwas Wärme, als ihn eine Hand vorsichtig aus
dem Müll fischte. Sie steckte ihn in eine warme Jackentasche. Dort kuschelte
Flo sich ein und lauschte einem kurzen Telefongespräch: „Du glaubst nicht, was
ich gefunden habe …“ Unverständliches Gemurmel am anderen Ende der Leitung.
„Eine Maus.“ „…“ „Ja, eine Maus im Papierkorb. Keine Ahnung, wohin mit dem
armen Ding.“ „…“ „Kann ich dir die wirklich bringen? Morgen?“ „…“ „Alles
klar. Dann bis morgen!
Die Nacht verbrachte Flo in einem großen Karton mit einer Schüssel so voller Haferflocken, dass er geplatzt wäre, hätte er alle essen wollen. Auch der Apfel war sehr lecker – und der Mensch anscheinend sehr nett. Er ging vorsichtig mit ihm um. Ganz behutsam packte er ihn mit seinem Karton ein, trug ihn durch die halbe Stadt, durch ein Gartentor hindurch und vorbei an einem Beet voller Ringelblumen, die noch so spät im Jahr Farbenkleckse zauberten.
Hier drückte sein Finder Karton samt Flo einem anderen Menschen in die Hand. Dieser Mensch lupfte vorsichtig den Deckel und lächelte Flo an: „Ich hab da wen für dich.“
Kurze Zeit
später saß der zarte, kleine Schecke fünf dicken, gemütlichen Kastraten
gegenüber. Flos Herzchen schlug bis zum Hals. Was, wenn sie ihn nicht mochten?
Er hätte keine Chance gegen die fast doppelt so großen Artgenossen und immerhin
saß er dem Geruch nach in ihrem Zuhause.
Doch sie mochten ihn. Und er mochte sie – besonders Balthasar, einen
langhaarigen Blacktan. Balthasar war einfach toll. Er zeigt Flo so viele
Sachen, die er noch nicht kannte. Aber Balthasar war eben weise. Immerhin war
er doppelt so alt wie Flo, nämlich schon ein ganzes Jahr alt.
Der kleine Mäuserich blühte auf. Hier war es schön. Es gab Kumpels und Platz
und Essen und Spielzeug und … einfach alles. Schon nach einer Woche konnte er
sich kaum noch an sein Leben vor diesem Ort erinnern. Dankbar kuschelte er sich
ganz fest an Balthasar und schlief selig ein.
Geweckt
wurde er von einem Tippen auf die Schulter. Eine große, weiße Maus stand vor
ihm. Das war nicht Balthasar und auch sonst keiner aus seinem Zuhause. „Komm“,
sagte die Maus und schob Flo sanft in Richtung einer Tür, die er hier vorher
noch nie gesehen hatte. Dahinter begann eine Brücke mit Fenstern links und
rechts und einem regenbogenfarbenen Boden.
Vorsichtig näselte Flo in Richtung eines Fensters. „Schau ruhig“, sagte die
weiße Maus. Flo spickte hindurch. „Mama!“ Durch ein anderes sah er einen
Papierkorb. Dann Balthasar. Und schließlich seinen Menschen, der weinend einen
Blumentopf mit Moos, einem Stein und einer Kerze ins Fenster stellte.
Für einen
Moment wurde Flo schwer ums Herz. „Du musst nicht traurig sein“, sagte die
große, weiße Maus und schob ihn durch eine zweite Tür. Hier war alles hell und
groß und voller Mäuse, die spielten, kuschelten, aßen, schliefen … „Hier wird
Dir nie wieder ein Leid geschehen und Du wirst nie wieder allein sein“, tröstet
ihn die weiße Maus.
„Warum bin ich hier?“, fragte Flo die Maus. „Weil Dein Schicksal erfüllt ist.“
Sein Schicksal sei es gewesen, ein Zuhause zu finden und geliebt zu werden,
erklärte die weiße Maus. Das darf er hier jetzt für immer haben.
„Weil heute Weihnachten ist, darfst Du Dir auch noch etwas wünschen“, flüsterte ihm die Maus zu. Florian überlegte kurz angestrengt, dann strahlte er sie an und flüsterte ihr seinen Wunsch ins Ohr. Die Maus sah ihm tief in die Augen: „Bist Du sicher?“ Flo wurde rot und nickte: „Ich brauch es ja nicht mehr. Ich bin jetzt hier.“
Die weiße Maus nickte bedächtig. „Gut. Dann schau mal aus dem Fenster dort.“ Flo stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute hinaus. Ganz tief unter ihm lag eine weiße Winternacht in klirrender Kälte. Ein Mensch war gerade im Begriff, ein Päckchen in einen Papierkorb an der Straße zu werfen. Im letzten Moment überlegte er es sich und ging weiter, das Päckchen unter dem Arm. Er bog um die Straßenecke, schlurfte noch einige Meter weiter, bevor er durch ein Gartentor ging, vorbei an einem Beet, in dem noch das Grün von Ringelblumen aus dem frischen Schnee hervorlugte. Dann stellte er das Päckchen auf den Treppenabsatz vor der Tür, klingelte – und ging. Die Tür öffnete sich und jemand nahm im warmen Schein von Kerzen das Päckchen mit nach drinnen.
Flo lächelte, schaute zu der großen weißen Maus auf und sagt: „Jetzt ist alles gut.“